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Ein quälender Mix aus heißem Dampf und kalter Meeresbrise schlug gegen die schwarzen Felswände und umspielte die Säulen der alten Brücke. Unweit entfernt floss ein dünner Strom Lava über den Rand, erkaltete auf seinem Weg nach unten, bis der Tropfen im Nebelverschwand und mit einem lauten Knall die aufgetürmten Steine irgendwo im Schleier traf. Aus der dicken Suppe aus Wasser, Asche und Rauch stieg ein beißender, stechender Gestank nach oben, der sich schließlich in die Nasenlöcher einer vermummten Gestalt brannte. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein Mensch. Zwei Arme, zwei Beine, zwei nackte Füße auf heißem Stein, ein Kopf auf den Schultern; doch wie zwei Dolche bohrten sich die braunen Hörnerdurch den ebenso braunen Stoff der Kapuze gen Himmel. Die glühendgoldgelben Augen waren starr auf die marode Straße zu seinen Füßen gerichtet. Unter dem fein versäumten Umhang glänzten einzelne grüne Schuppen mit amateurhaft eingestanzten Überresten aus Silberrunen. Wie kleine Spritzer Farbe waren sie überall auf der sonnengebräunten Haut verteilt. Lediglich der peitschende Schweif war vollkommen mit grünen Schuppen bedeckt.
»Mein Meister«, flüsterte der sehr viel kleinere Begleiter, den Kopfgebeugt und den Rücken gekrümmt. »Wir erreichen bald das heilige Tor. Benötigt Ihr noch etwas?«
Endlich hob erden Blick auf das Kunstwerk am Ende der Straße, wo die Klippe zusammen mit der düsteren Stadt Calcita endete und der Weg auf die heilige Insel begann. Keinem Menschen war es erlaubt, dieses klar gezeichnete Ende zu passieren und so würde er seine Begleiter ebenfalls zurücklassen.
Sogleich löste er die kleine Tasche am ledernen Gürtel, nachdem er seinen zuvor raschen Schritt wieder aufnahm. Den darin befindlichen, handtellergroßen Stein umschloss er mit seiner Klaue, fühlte die schlagende Magie im Inneren. Hitze und Sturm waren nichts im Vergleich zum konzentrierten Unbehagen, welches von diesem kleinen Ding ausging. Seine ganze Reise von der Hauptstadt bis hierher hatte er es vermieden, es auch nur anzusehen. Niedere Drachen, so wie er einer war, brachten üblicherweise die Eier anderer Drachen zur Brutstätte.
Mit einer schnellen Bewegung klappte er die Tasche zu und befestigte sie mit einem lockeren Knoten am fein gearbeiteten Gurt. Die Kälte, die von diesem kleinen Ding ausging, biss sich fester durch Leder und Schuppen, als jeder seiner 200 erlebten Winter. Warum musste man auch unbedingt ihn auf diese wahnwitzige Reise schicken? Er war ein Wesender Ebenen, der Wiesen und der Erde, kein Kurier für einen Babydrachen! Er hatte ja nicht einmal Flügel! Statt sich im Gras der Ewigen Wiesen zu schlängeln und sich der Sonne zu erfreuen, trug er wochenlang einen Eisklotz in seiner Tasche durchs ganze Land!
»Beunruhigt Euch etwas, mein Meister?«, kam die erneute Frage des gezeichneten Menschen. Mit einer flüchtigen Handbewegung wedelte er diese ab, wodurch die Anhänger um ihn herum einen viel stärkeren Buckelmachten. So musste er sich wenigstens nicht das vernarbte, aufgerissene Gesicht seiner Begleiter ansehen. Er wollte, dass es schnell vorbei war.
Mit härteren Schritten, die aufgrund von Asche, Stein und Kies abgefedert wurden, bahnte er sich seinen Weg über den Platz vor der Brücke, die ihn auf die Insel führen würde, vorbei an Bettlern und betenden Menschen. Er konnte diese Gemeinschaft nicht auseinanderhalten. Für ihn sahen Sterbliche alle gleich aus. Ohne einen Blick zu verschwenden, zwang er sich weiter, die hölzernen, nahe des Lavastroms von Feuer und meerseitig von Salz zersetzten Statuen ignorierend, stieß unterwegs ein oder zwei Bettler unsanft auf dieSeite. Dieses elende Gestöhne nervte. Erst in der Nähe des heiligen Tors lichteten sich die Reihen deutlich und er konnte unter dem Torbogen durchatmen.
Der Anblick der goldenen Bögen, der eingelassenen Edelsteine, die vielen Gravuren und eleganten Windungen lösten in ihm ein angenehmes Kribbeln aus. Die Wärme von dieser Ansammlung aus Kostbarkeiten würde er noch über etliche Tagesmärsche hinweg spüren. Jeder Drache, sogar jeder Gwenja, der ein kleines bisschen Drachenblut besaß, fühlte die ungeheuer zufriedenstellende Anziehungskraft von Gold. Mit dem Edelmetall fanden sie ihre wichtigsten Orte in der Welt und dieser hier war auf der Rangliste ganz weit oben. Trotzdem wollte er so schnell wie möglich wieder weg. Die Wochen und Monate der Reise, die er bereits hinter sich gebracht hatte, lagen leider auch noch für die Rückreise vor ihm. Je schneller er seine Mission erfüllte, umso schneller konnte er zurück nach Hause.
»Ihr bleibt hier. Wartet auf meine Rückkehr«, befahl er harsch. So sehr er sich auch wünschte, mit einer Kutsche die Brücke passieren zu können, Pferde kamen nicht einmal in die Nähe der Brutstätte, ohne ihreReiter in Panik abzuwerfen. Daraus resultierten seine geschundenen Füße – Drachenfüße passten wegen der Krallen eben nicht in Menschenschuhe –, die für seine mehr als schlechte Laune sorgten. Es bedurfte zwar eines sehr viel festeren Materials als Stein, um sich in die winzigen Schuppen zu bohren, Druckstellen schmerzten trotzdem.
Umso glücklicher waren sie, als er endlich den unebenen Kiesboden verließ, die Steine aufhörten, sich zwischen seine Zehen zu bohren und er auf glattem Marmor die aufgeheizten Schuppen kühlen konnte. Ein etwas frischerer Luftzug umspielte seine Nase und ersetzte den unerträglichen Schwefelgeruch. Wie Feuerdrachen die Nase in Schwefelbäder stecken konnten, wie Menschen in diverse Arten von Blumen, war ihm schleierhaft. Jeder Schritt auf der blankpolierten Brücke reichte zwar nicht an das Gefühl von Gras, getränkt in süßem Morgentau, heran, aber auf jeden Fall besser als dieser Haufen Schutt, durch den er sich während der Reise im Reich der Feuerdrachen quälte.
Da fiel ihm ein, die Hohepriesterin hatte ihm aufgetragen, auf seinem Weg in die Brutstätte mit dem Ei zu reden. Warum auch immer das nötig war. Keiner hatte vor seinem Schlüpftag mit ihm gesprochen, nicht einmal sein Vater.
»Komm her, Kleines.« Seine Hand ging automatisch an seine Seite. Dann an die andere. »Was zum …« Er hob den Mantel an, klopfte seinen ganzen Körper ab.
Weg.
Die Tasche warweg.
Hastig drehte er sich um sich selbst, suchte mit weit aufgerissenen Augen den Boden ab. Hatte er den Knoten zu locker gemacht? Ein plötzlicher Rausch ging durch seine Adern. Mensch oder Drache, ein paar Emotionen hatten beide Rassen gemeinsam. Panik war definitiv eine davon.
So schnell er konnte, rannte er den bereits hinter sich gelegten Weg zurück, streckte dabei die Nase in die Luft, um eine Witterung aufzunehmen. Es musste nach ihm riechen, also nach Gras und Erde und dem Geruch von Tau am Morgen, gleichzeitig wurde ihm die Bedeutung des Spruchs der Menschen ›sich selbst nicht riechen können‹ sehr klar. Er konnte gar nicht einschätzen, wie er selbst roch. Nur der beißende Gestank von Asche und Lavadämpfen hing in der Luft, gemischt mit dem Gefühl, dass sich die Meeresluft in seine Nase presste und sie wie Meerwasser durchspülte. Sofort stieß er ein frustriertes, kehliges Brüllen aus, das die Menschen auf der anderen Seite des Tors erstarren ließ. Kaum hastete einer seiner Diener zu ihm, packte er das niedere Wesen am Kragen.
»Wo ist meine Tasche?!«, brüllte er ihm entgegen. Eine Mischung aus Spucke und Gift flog dabei aus seinem Rachen, die sich zischend in die weiche Haut in und um die rituellen Narben seines Gegenübers brannte. Das eingravierte Silber in den Schuppen des Drachens zischte.
»M-mein Herr, ich weiß nicht …«
»Die Tasche mit dem Ei darin! Wo ist sie?!«
»Ich … Ich…«
»Sucht sie! Sofort!« Mit einem Ruck schleuderte er den unnützen Haufen Fleisch zu den anderen seiner Reisetruppe, die sich wie ein hastiger Ameisenhaufen überschlugen, einen der Betenden anrempelten, bevor sie sich letztendlich in Bewegung setzten. Die aufkommende Paniksteckte auch die Unbeteiligten an, die der Gruppe erschrocken aus demWeg sprangen. Am Boden kriechend, erschrockenes Japsen und gequältes Stöhnen ignorierend, drehten sie jeden Kieselstein um, wischten Asche von jeder Erhöhung auf der Suche nach der Tasche. Der Erddrache stand rasend vor Wut und paralysiert vor Angst vor den Konsequenzen unter dem sonst so beruhigenden Bogen aus Gold und Edelsteinen.
Er hatte das Ei der Drachenprinzessin verloren.